«Mein persönlicher Jakobsweg»
Doris Pfister. Ehefrau. Dreifache Mutter. Siebenfache Grossmami. Ehemals berufstätig, unternehmungslustig, Wandervogel, Schlaganfallpatientin.
Text: Chara Frangos
«Mein persönlicher Jakobsweg»
Auf der Karte feine Verflechtungen von Linien. Zu Fuss, etliche Pilgerstrecken, die zu Reisestrecken werden: Europas wohl bekanntester Pilgerweg, der Camino de Santiago. Aber was hat der Jakobsweg mit Doris Pfister, 70 Jahre alt, wohnhaft im Kanton St. Gallen, zu tun? Frau Pfister ist wie jeder andere Mensch die Summe ihrer Erfahrungen, die sich fein durch ihre Lebensjahre ziehen und eine ganz persönliche Lebenskarte zeichnen. Machen wir eine einschneidende Erfahrung, teilt dieser Zeitpunkt wie eine Linie das Leben in ein «Davor» und ein «Danach».
Doris Pfister. Ehefrau. Dreifache Mutter. Siebenfache Grossmami. Ehemals berufstätig, unternehmungslustig, Wandervogel, Schlaganfallpatientin.
Doris Pfister musste die Nadel ihres Kompasses auf ihrer persönlichen Lebenskarte dutzende Male neu ausrichten. Beim gemeinsamen Mittagessen mit ihrem Mann und ihrem Sohn bemerkt sie den zittrigen Arm, als sie ihre Hand nach dem Wasserglas ausstreckt. Das flaue Bauchgefühl und die kurz aufflackernde Besorgnis schiebt sie vehement zur Seite. Als sie aufsteht stösst sie unkontrolliert gegen das Tischbein. Ihre Intuition warnt sie und zum Glück hört sie auf ihre innere Stimme. Der Besuch beim Hausarzt brachte Klarheit: sofortige Überweisung ins Spital – mit Sicherheit ein Hirnschlag. Bei Eintritt in das Spital konnte sie noch alle Gliedmassen bewegen, innert drei Tage war sie halbseitig gelähmt. Darauf folgten ungefähr acht Wochen im Rollstuhl.
Eintritt auf Rädern, Austritt zu Fuss
Der damalige Spitalpfarrer – ein ehemaliges «Pfadigspänli» – empfahl ihr die Rehaklinik Zihlschlacht, um wieder auf die Beine zu kommen. Er sollte Recht behalten. Der Eintritt erfolgte im Rollstuhl, der Austritt zu Fuss mithilfe eines LEKI-Stocks. Dazwischen lagen elf Wochen stationäre neurologische Rehabilitation.
«Mein Rehabilitationsziel: Grossmami sein»
Bei jedem Aufenthalt in der Rehaklinik definiert der Patient oder die Patientin gemeinsam mit den Expertinnen und Experten ein Rehabilitationsziel. Doris Pfisters Ziel? Pascal, den wenige Monate alten ersten Enkel auf den Schoss nehmen zu können, ihn zu halten und einfach Grossmami zu sein. Jeden Abend sagte sich Doris Pfister, dass sie ihrem Ziel ein klein wenig nähergekommen ist. Und jeden Morgen nahm sie sich ihr Ziel aufs Neue vor: «Ein Rehabilitationstag ist wie ein Arbeitstag. Feierabend machte ich erst, wenn ich ins Bett ging», erinnert sie sich.
Bei der Wallfahrt im herkömmlichen Sinn steht immer das Ziel im Vordergrund, nicht der Weg dahin. Es erstaunt mich als Interviewpartnerin nicht, dass Frau Pfister ihren Weg als Ziel anerkennt. Ihre Gesundheit, einem Arbeitstag gleich, der immer wieder aufs Neue beginnt. Kontinuierlicher Fortschritt, beharrliche und achtsame Körperarbeit, dazu die unerlässliche Kopfarbeit. Ihre grosse Motivation, Ausdauer und Hartnäckigkeit ist richtiggehend spürbar. Es ist beindruckend und steht in einem gewissen Gegensatz zu ihrer zierlich wirkenden Erscheinung. Man spürt ihren Stolz über die bereits erreichten Ziele und auch die Freude an wiedererlangten Fähigkeiten in ihrem Alltag, ihrem Leben «danach», wobei sich der Bezug zu dieser Lebensetappe verändert hat. Es ist ein Leben im «Jetzt».
«Viele unserer Nervenbahnen liegen brach, unser Hirn gleicht einem filigranen Geflecht. Obschon Nervenbahnen beschädigt oder inaktiv sein können, findet unser Gehirn neue Wege, um unseren Körper wieder beweglich werden zu lassen». Diese Erkenntnis aus einem der Vorträge von Chefarzt Daniel Zutter imponierte Doris Pfister besonders. Sie verinnerlichte diesen Grundsatz und richtet nicht nur das tägliche Training zu Hause, sondern auch sämtliche alltägliche Bewegungen danach aus. Alle Bewegungen, auch ausserhalb der Therapie, sind Arbeit. Man muss es wollen und man muss es für sich selber tun. Das behielt Doris Pfister in diesen elf Jahren seit dem Hirnschlag bei. Mehrfach verbrachte sie stationäre Aufenthalte und konsultiert bis heute auch ambulante Therapieeinheiten.
Doris Pfister vermisst das Skifahren und das Fahrradfahren. Beides ist nicht mehr möglich, oder müsste unter den gegebenen körperlichen und koordinativen Voraussetzungen als Extremsport deklariert werden. Wir lachen. Frau Pfister lässt es jetzt gut sein mit dem Zweirad. Dafür hat sie das Wandern für sich entdeckt und das Autofahren mit Automatik wieder erlernt.
100 Kilometer in acht Tagen
Doris Pfister erkrankte im Februar 2021 an Covid-19 und hatte mit Langzeitfolgen zu kämpfen. Das Post-Covid-19-Rehabilitationsprogramm der Rehaklinik Zihlschlacht half ihr, wieder Energie zu gewinnen und zu Kräften zu kommen. Das diesjährige Rehabilitationsziel war, im Oktober 2021 weiter auf dem Jakobsweg voranzukommen, dieses Mal in Spanien. Ein Wunsch, der an den im Jahr 2019 zurückgelegten französischen Jakobsweg anknüpft. Sie nahm gemeinsam mit ihrem Mann an einer Tour teil, an der das Gepäck transportiert und die Unterkunft organisiert wurde. So war das Wandern einfacher und an schlechten Tagen bestand die Möglichkeit, die Strecke zu fahren. Sie legten in acht Tagen 100 Kilometer zurück. Darauf ist Doris Pfister stolz, das ist eine grosse Leistung. Der Jakobsweg hat für das Ehepaar nicht nur einen religiösen Hintergrund er bietet auch eine wunderbare Auszeit, in der man loslässt, keine Ablenkungen erfährt, kein Smartphone nutzt, der einem Raum bietet, einfach zu sein. Es entstehen Zufallsbegegnungen, ab und zu läuft man allein in der Stille, manchmal gemeinsam als Ehepaar und dann und wann mit Menschen, die man gerade erst kennengelernt hat. Lebensgeschichten treffen aufeinander. Lebenskarten verflechten sich mit Landkarten und es entstehen neue Geflechte, neue Geschichten, die man bei der Rückkehr den sieben Enkeln erzählen darf.
Wir freuen uns mit Frau Pfister über den Erfolg auf ihrem ganz persönlichen Jakobsweg.