Myosuit: Freiheit und Sicherheit dank tragbarer Robotik

Er wirkt wie ein Anzug aus einem Science-Fiction-Film. Die Rede ist vom tragbaren Roboter namens Myosuit. Er hilft Patientinnen und Patienten mit wackeligen Beinen die Treppen hoch oder bei Spaziergängen im Wald und gibt ihnen so etwas normalen Alltag zurück.

Text: Nicole Urweider // Bilder: Markus Lamprecht

Redact Vamed Myosuit 9607 Der Myosuit unterstützt beim Treppensteigen und gibt Sicherheit bei der Bewegung.

Patienten tragen ihn wie eine Art «Gstältli». Doch der Myosuit besteht aus deutlich mehr als aus Gurten und Schnallen: Er integriert eine hochmoderne Robotiktechnologie und gehört zu den sogenannten Exoskeletten. An jedem Bein verlaufen künstliche Muskelstränge, die von zwei Elektromotoren gespannt werden. Die Kraftübertragung erfolgt über eine ausgeklügelte Kombination von Stoff- und Kunststoffmanschetten. Der Antriebsmotor steckt in einem kleinen Rucksack. Klingt nach viel, doch tatsächlich wiegt dieses robotergestützte Trainingssystem zum Anziehen nur 5,6 Kilogramm. 

Redact Vamed Myosuit 9505 Carmel Tulen plant eine wissenschaftliche Publikation über den Myosuit.

VAMED Schweiz setzt den Myosuit seit einiger Zeit in ihren Rehazentren ein, unter anderem in der Rehaklinik Zihlschlacht. Carmel Tulen ist dort als Therapeutin Robotik & Sport tätig sowie Verantwortliche des Clinical Innovation Teams. Mit Soft-Exoskeletten beschäftigt sie sich nicht nur im Therapiealltag, sondern auch im wissenschaftlichen Bereich. Bereits in ihrer Masterarbeit zum Studium «Sport und Bewegungsinnovation» stand der Myosuit im Fokus. Für Ende 2024 ist nun eine wissenschaftliche Publikation über den Einsatz im Heimgebrauch geplant.

Image slider

Redact Vamed Myosuit 9646
Redact Vamed Myosuit 9533 Im Rucksack des Myosuits befindet sich ein Antriebsmotor. Der ganze Myosuit wiegt nur 5,6 Kilogramm.

In der Rehaklinik Zihlschlacht kommt der Myosuit vor allem dann zum Zug, wenn Patientinnen und Patienten schwach oder wackelig auf den Beinen sind. Das sind vor allem Schlaganfallpatienten, Menschen mit Multipler Sklerose, Polyneuropathie oder der Autoimmunerkrankung Guillain-Barré. «Beim Gehen unterscheiden wir zwischen der Schwungphase, also wenn man das Bein anhebt, und einer Standphase, in der man kurz stillsteht», erklärt Carmel. «Wichtig ist, dass die Patienten selbst das Bein anheben, die Schwungphase also eigenständig initiieren können. Der Myosuit unterstützt in der Standphase. Dabei stabilisiert er und verhindert das Einknicken.» Dies gibt den Patienten Stabilität und damit Zeit, den nächsten Schritt zu machen. 

Redact Vamed Myosuit 9641 In der Rehaklinik Zihlschlacht ist der Myosuit regelmässig bei Therapien im Einsatz.

Das leichte Gerät stemmt bis zu 110 Kilogramm. Wer sich nun einen völlig steifen Robotergang vorstellt, liegt jedoch falsch. «Das Coole an dem Gerät ist, dass es mit der betroffenen Person mitmacht. Im Laufmodus blockiert es immer nur ein Bein. Sobald der Myosuit dank den Sensoren merkt, dass der nächste Schritt kommt, lässt er das Bein wieder locker», erklärt die Therapeutin begeistert. «Das Gerät funktioniert auch nur, wenn die Patientin oder der Patient sich selbst bewegt. Es läuft also nicht von allein los.» Weiter lässt sich die Unterstützungsstärke pro Bein individuell einstellen mit sechs Unterstützungsstufen zwischen 0 und 110 Kilogramm – ideal für Schlaganfallpatienten, die meist einseitig betroffen sind.

Der Myosuit ist darauf ausgelegt, Patienten im Alltag mobiler und unabhängiger zu machen. «Nehmen wir zum Vergleich das Fahrradfahren. Für Personen mit einem relativ sicheren Gang ist der Myosuit wie ein E-Bike, das hilft, einfacher vorwärtszukommen und weitere Strecken zurückzulegen. Für Personen, die schwächer auf den Beinen sind, hilft er wie Stützräder und gibt Sicherheit», erläutert Carmel. Wie der Myosuit zum Einsatz kommt, hängt also vom Bedürfnis der betroffenen Person ab: Für den einen heisst dies, dass er besser die Treppe hoch- oder hinunterkommt, für den anderen, dass er den 500 Meter langen Fussweg in den Supermarkt schafft oder endlich mal wieder mit der Familie im Wald spazieren gehen kann. 

quote-icon

«Es ist bewegend zu sehen, wie sich die Patientinnen und Patienten freuen, wenn sie dank diesem Gerät endlich wieder etwas machen und geniessen können, was ihnen lange verwehrt blieb oder sie sich nicht getrauten.»

Carmel Tulen
Redact Vamed Myosuit 9549 An den Beinen verlaufen künstliche Muskelstränge, die den Patienten Stabilität geben.

Voraussetzung für die Benutzung ist, dass die Patienten etwa zehn Meter mit einer Gehhilfe gehen können und eine gewisse Rumpfstabilität haben. Sind diese Kriterien ausgetestet, definieren die Therapeutinnen und Therapeuten die Einstellungen des Geräts und instruieren die betroffenen Personen. Dann arbeitet man in der Trainingstherapie gemeinsam auf die individuellen Ziele hin. Möchte der Patient eine bestimmte Wegstrecke zurücklegen oder auf unebenem Boden, zum Beispiel im Wald, gehen können? Oder hat er zu Hause eine Treppe oder eine spezielle Hausarbeit, die er bewältigen will? Die Ansprüche der Patienten bestimmen das Training. Das Entscheidende für den Erfolg ist, wie gut das Trio Patient, Therapeut und Myosuit zusammenarbeitet.

Redact Vamed Myosuit 9570 Die Unterstützungsstärke des Myosuits lässt sich pro Bein individuell einstellen.

Der Myosuit unterstützt nicht nur im Alltag, er trägt auch generell dazu bei, die Fitness zu verbessern. Dank der regelmässigen Benutzung stärken die Patientinnen und Patienten ihre Muskeln, ihre Ausdauer und Koordination. Das hilft, die Gehfähigkeit zu verbessern. «Zwar schreiten gewisse Krankheiten wie MS trotzdem fort, aber das Training verlangsamt die Verschlechterung und verbessert die Lebensqualität und Mobilität», ist sich die Therapeutin gewiss. Ideal ist das Training mit dem Myosuit auch für Personen mit Guillain-Barré, einer Autoimmunerkrankung, die plötzlich auftritt und die Mobilität stark einschränken kann. «Die Krankheit ist meist nur vorübergehend. Wenn die Patienten sich währenddessen dank des Myosuits trotzdem etwas bewegen können, bleiben die Muskeln trainiert, und die betroffenen Personen werden beim Abklingen der Symptome schneller wieder mobil», erklärt Carmel.

Gut zu wissen
Versicherungen übernehmen die Kosten für Therapieeinheiten mit dem Myosuit. Aktuell noch nicht gedeckt ist der Kauf eines eigenen Myosuits. Der Hersteller MyoSuisse ist jedoch in Kontakt mit den Krankenkassen und arbeitet an einer Leasinglösung. 

 

Aktuell setzt die Rehaklinik Zihlschlacht den Myosuit vor allem bei Patientinnen und Patienten in der Klinik ein. Ziel ist, ihnen das Gerät auch mit nach Hause zu geben, damit sie auch dort Erleichterung haben und weiter trainieren. Das war auch die Motivation für Carmels Studienarbeit. Die Patienten in Zihlschlacht sind vorwiegend neurologische Patienten, bei denen oft auch eine Einschränkung der Feinmotorik einhergeht. Solche Patienten haben manchmal Schwierigkeiten, den Myosuit alleine anzuziehen, wie das Feedback aus den Befragungen ihrer Studie zeigt. «Der Einbezug von Angehörigen oder Therapeuten» ist für Carmel eine mögliche zukünftige Lösung. «Oder das Gerät noch besser an die Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen.» Und dies ist genau der Punkt, warum die Zusammenarbeit von Kliniken mit Praxisbezug und Hersteller so wertvoll ist. «Solche Inputs geben wir immer gerne an den Hersteller weiter; das machen wir bei all unseren robotergestützten Trainingssystemen. Denn wir haben ja beide dasselbe Ziel: die Therapie und Unterstützung der Patienten fortlaufend zu verbessern.»

Mehr Informationen zum wissenschaftlichen Beitrag über den Myosuit gibt es unter den Forschungsprojekten auf der Forschungsseite der VAMED Schweiz zu finden.